Die Krankenversicherung nach Art der Lebensversicherung stellt einen wesentlichen Teil des österreichischen Versicherungsmarktes dar. Während für andere Sparten oftmals zahlreiche aktuarielle Schriften und Lehrbücher vorliegen – beispielsweise wird man in der Lebensversicherung kaum am „Gerber“ vorbeigekommen sein – stehen Aktuar:innen in der Krankenversicherung deutlich weniger Unterlagen zur Verfügung. Die Werke von Bohn und Becker mögen manche gelesen haben, jedoch haben in Österreich die meisten das 1×1 der Krankenversicherungsmathematik wohl von Karl Metzger und seinem Skriptum gelernt. Gleichzeitig ermöglichen weder das Verständnis der Lebensversicherungsmathematik noch der deutschen privaten Krankenversicherung ein vollständiges aktuarielles Bild der österreichischen lebenslangen privaten Krankenversicherung. Auch das Gesetz, v.a. das VersVG und das VAG, bietet zwar wesentliche Anhaltspunkte, lässt aber gleichzeitig viele Fragen der Praxis unbeantwortet, die für Aktuar:innen von größter Bedeutung sind.
Es bestand daher Bedarf, anerkannte Methoden, welche insbesondere die Tarifierung am österreichischen Markt behandeln und über das 1×1 hinaus gehen, in einem Best Practice Dokument festzuhalten und Fragestellungen zu behandeln, die bisher in keinem Lehrbuch beantwortet wurden. Zu diesem Zweck wurde im Jahr 2020 innerhalb der AVÖ der Unterarbeitskreis „Krankenversicherung“ gegründet, in dem sich zwei Jahre lang insgesamt 14 fachkundige Aktuar:innen regelmäßig ausgetauscht haben. Wir haben Sichtweisen diskutiert, Lesarten kritisch hinterfragt, und Methoden erarbeitet, bis wir im April 2022 dem Vorstand der AVÖ einen Entwurf des Leitfadens vorlegen konnten. Dieser war von Mai bis August in Begutachtung, im Rahmen derer alle Mitglieder der AVÖ Feedback rückmelden konnten. Nach einem Feinschliff ist der Leitfaden nun fertiggestellt und wird demnächst auf der Homepage der AVÖ veröffentlicht.
Wesentliche Themenbereiche des Leitfadens sind Tarifkalkulation und Tarifanpassung bzw. Konvertierungen, wobei wir uns auf die UGB/VAG Sichtweise konzentriert haben. Die Best Estimate Bewertung war bewusst nicht im Fokus und könnte bei etwaigen Ergänzungen bzw. Erweiterungen des Dokuments behandelt werden. Bezüglich der Tarifkalkulation werden Methoden zur Herleitung von Rechnungsgrundlagen und die Prämienberechnung in ihren Grundzügen beschrieben. Ebenso wird auf die Bedeutung und Herleitung von statistisch aussagekräftigen Daten eingegangen. Fachbegriffe wie Kopfschaden bzw. Kopfschadenreihe und Profile werden nicht nur in mathematischer Notation dargestellt, sondern auch verständlich erklärt. Auf Basis der Prämienberechnung wird die Bildung der Alterungsrückstellung erläutert.
Im Abschnitt der Prämien- und Leistungsanpassung wurden insbesondere die Bestimmungen des VersVG zur vertraglichen Vereinbarung von Anpassungsklauseln aus aktuarieller Sicht behandelt. Hier lässt der Gesetzestext viele Fragen der Anwendung offen, die im Unterarbeitskreis behandelt und wo möglich aktuariell beantwortet wurden. Zusätzlich wurden auserwählte Gesetzestexte aktuariell interpretiert bzw. aktuarielle Auslegungen beschrieben. Ebenso wird auf die Behandlung von Vertragskonvertierungen eingegangen.
Die intensive Arbeit an diesem Leitfaden war zu jeder Zeit spannend und hat uns sehr verbunden! Wir konnten Sichtweisen austauschen, viel voneinander lernen, und schließlich die besten Methoden und Lösungen im Dokument festhalten. Wir möchten uns bei allen Teilnehmenden des Unterarbeitskreises herzlich für die Mitarbeit und das Engagement bedanken und hoffen, dass dieser Leitfaden nicht nur eine gute Grundlage für in der österreichischen privaten Krankenversicherung tätige Aktuar:innen bilden wird, sondern auch das Verständnis für die Spezifika der Krankenversicherung innerhalb der gesamten aktuariellen Gemeinschaft fördern wird.