Im Rahmen der Generalversammlung 2020 diskutierte AVÖ-Generalsekretärin Karin Hirhager mit Expertinnen und Experten der Finanz- und Versicherungsbranche. Risikofrei im Online-Forum.
Das Thema Niedrigzins beschäftigt Aktuarinnen und Aktuare schon länger. Nun hat es sich in einer vermutlich unvorhergesehenen Weise realisiert. Speziell für Lebensversicherer ist das Zinsrisiko von besonderem Interesse. Wilhelm Schneemeier verfügt über langjährige Erfahrung im Versicherungsbereich und vertritt die Interessen der Aktuarinnen und Aktuare sowohl im Vorstand der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) als auch als Chairperson der Actuarial Association of Europe (AAE). AVÖ-Generalsekretärin Karin Hirhager will von ihm wissen, wie er das Niedrigzinsumfeld einschätzt.
Karin Hirhager, AVÖ: Herr Dr. Schneemeier, welche Herausforderungen bringt das Niedrigzinsumfeld insbesondere für unseren Berufsstand?
Wilhelm Schneemeier, DAV: Die Zinsen können seit einigen Jahren speziell in Deutschland mit seiner hohen Kreditwürdigkeit nicht mehr im positiven Bereich gehalten werden. Deshalb braucht es Konsequenz. Der erste Schritt für alle Aktuarinnen und Aktuare ist es, zu akzeptieren, dass wir uns in einer anhaltenden Tiefzinsphase befinden. Wir sind zuständig für eine solide Reservierung in der lokalen Bilanz: Deutschland hat hier seine Hausaufgaben gemacht und inzwischen von Vier-Prozent-Garantien der Vergangenheit auf unter zwei Prozent nachreserviert. Solvency II hat natürlich auch geholfen. Es gibt heute keine neuen Produkte mehr mit hohen und schon gar nicht langfristigen Garantien. Und Vorsicht bei Garantien auf laufende Beiträge über 30 Jahre und mehr. Das wissen aber Aktuarinnen und Aktuare inzwischen. Eine Bemerkung noch aus einer europäischen Brille: Die südlichen Länder schauen weniger auf Zinsrisiken, die sind in ihren Produkten stärker Spread-Risiken ausgesetzt und interessieren sich eher für Matching- und Volatility Adjustment bei ihren Prioritäten unter Solvency II.
Karin Hirhager, AVÖ: Frau Mag. Mammerler, Sie sind als CRO bei der Zürich Versicherungs-AG tätig. Welchen Stellenwert hat das Zinsrisiko für Sie und welche Auswirkungen erwarten Sie aus dem aktuellen Niedrigzinsumfeld?
Isabella Mammerler, Zürich Versicherungs-Aktiengesellschaft: Im Risikomanagement ist natürlich das erste Ziel, die langfristigen Zins- und Kapitalgarantien im Produktbestand einzuhalten. Diesen Altbestand muss man mittels Aktiv- und Passivmanagements, Cash-flow-Managements und Storno-Managements entsprechend steuern. Auf der Aktivseite ist es herausfordernd, neue Assets zu finden, die wenig Risiko haben, aber doch einen höheren Ertrag liefern. Also eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Andererseits bietet uns das Ganze eine gute Chance, neue Produkte zu entwickeln, neue Produkt-Features zu bauen und Geschäftsmodelle zu überdenken. Die Pandemie und die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise bzw. die hohen Staatsverschuldungen lassen auch leider nicht mehr auf potenzielle Zinssteigerungen hoffen. Das Zinsniveau wird wohl so bleiben.
Karin Hirhager, AVÖ: Die Niedrigzinsphase hat sicherlich auch die meisten Versicherer gezwungen, sich näher mit ihren Modellen auseinander zu setzen. Herr Mag. Hell, können Sie aus Ihren Erfahrungen in der Vor-Ort-Prüfung von Versicherungen und Pensionskassen feststellen, dass mit der Realisation des Zinsrisikos gleichzeitig eine Realisation des Modellrisikos einher ging?
Andreas Hell, FMA: Das Modellrisiko im klassischen Sinn, dass das Modell falsch ist, hat an Bedeutung gewonnen, weil wir einfach näher am Abgrund stehen. Auch kleine Fehler können massive Auswirkungen haben. Der Umgang des Managements mit den Modellen sehe ich als das eigentliche Thema. Je komplexer die Modelle werden, je mehr Parameter enthalten sind, desto mehr vertaut man auf sie. Logisch, kann man auch, sie werden auch immer besser. Aber die Modelle liefern ganz exakte Zahlen, da geht es um Kommazahlen. Im Management wird diese Zahl auch in dieser Exaktheit genommen. Wenn ich knapp am Limit bin und ich mit einer Zahl manage, in der eigentlich eine Bandbreite enthalten ist, sagen wir von zehn Prozent auf oder ab, habe ich ein hohes Risiko, dass die Realität mich überholt und ich nicht dort bin, wo das Modell es mir sagt.
In Bezug auf das Zinsrisikoselbst habe wir es in den Modellen schon sehr früh gesehen. Es hat nur unterschiedliche Managementansätze dazu gegeben. Und diese Managementansätze haben gereicht von “es wird schon nicht kommen”, “wenn’s kommt, ist es kurz” und die wenigsten haben gesagt, es kann eine sehr lange Niedrigzinsphase geben. Und jetzt sind wir halt dort. Aber die Modelle haben das schon sehr lange vorhergesagt, dass das ein Problem ist.
Karin Hirhager, AVÖ: Frau Dr. Wiedermann-Ondrej – Sie leiten die Abteilung III/6, Versicherungsrecht und Bundeshaftungen im Bundesministerium für Finanzen. Das Niedrigzinsumfeld stellt natürlich alle Versicherer vor die Frage, welche Anlagestrategie geeignet ist. Wie ist Ihre Einschätzung zum Veranlagungsrisiko und was erwartet uns in der nahen Zukunft?
Nadine Wiedermann-Ondrej, BMF: Aus dem BMF kommend kann ich das nur aus einer regulatorischen Perspektive beantworten. Das Niedrigzinsumfeld wird uns noch länger begleiten. Welche Assets können Versicherer hier noch erwirtschaften? Und welche Erleichterungen in der Infrastruktur sind möglich, etwa beim SCR-Review 2018? Das war für manche wahrscheinlich nicht ausreichend, um die gewünschten Effekte zu bekommen. Diese Diskussion wurde jetzt prolongiert und in den Solvency-II-Review hineingetragen. Der Druck wird immer größer, andere Investitionen zuzulassen. Bislang konnte dem begegnet werden durch das oberste Ziel von Solvency II, dem Versicherungsnehmerschutz. Und im Rahmen dessen war es immer wichtig, eine risikoadäquate Darstellung sicherzustellen. Ein ganz großes Thema ist hier, die Long-Term-Equity-Unterlegungen zu reduzieren, damit Versicherer ihrer Aufgabe als Long Term Investors gerecht werden können. Wenn man den Versicherungsnehmerschutz nicht mehr als oberste Direktive sieht, sondern andere Generalklauseln zulässt, muss man damit rechnen, dass die Risiken zugunsten anderer politischer Ziele nicht mehr adäquat dargestellt werden. Insofern wird es spannend sein, welche zusätzlichen Ziele Solvency II erhalten wird.
Karin Hirhager, AVÖ: Frau Mag. Mammerler, welche neuen Risiken sehen Sie im Finanz- und Versicherungsbereich?
Isabella Mammerler, Zürich Versicherungs-Aktiengesellschaft: Ich habe mir vorab den Global Risk Report 2020 vom World Economic Forum angesehen. Dieser Report stellt aufgrund einer jährlichen Befragung eine Einschätzung der größten Risiken dar, die global und in Europa gesehen werden. Wenn die Reports der letzten zehn Jahre betrachtet, sieht man eine große Verschiebung von vor allem wirtschaftlichen Risiken zu Umwelt- und Klimarisiken. Der Bericht wurde aber im Jänner veröffentlicht, wo die Pandemie noch nicht so evident war. Nun ist die Pandemie per se kein neues Risiko. Dennoch haben wir viele der damit einhergehenden Risiken in neuer Form erlebt bzw. in einer verstärkten Auswirkung. Wir haben zum Beispiel eine nie dagewesene Staatsverschuldung, die zu Einschnitten führen kann im Sozialen bzw. auch zu erhöhten Steuern für Haushalte und Unternehmen. Wir haben Risiken wie einen Lockdown erlebt und wir haben das Haus nicht verlassen dürfen oder Geschäfte nicht öffnen können. Das hat Risiken mit sich gebracht in Bezug auf Arbeitslosigkeit und die ökonomische Entwicklung. Beispielsweise stellt das Home-Office, das ja positiverweise bei vielen Unternehmen in der Krise ganz gut funktioniert hat, den Büroimmobilienmarkt vor andere Gegebenheiten, weil die Unternehmen eventuell kleinere Flächen brauchen werden in Zukunft. Das ist interessant für Versicherungsunternehmen, die ja im Schnitt viel in Immobilien investiert sind. Was auch sehr evident wurde, ist die Vernetzung in der Weltwirtschaft. Man hat zum ersten Mal am eigenen Leib erlebt, was Engpässe in den Lieferketten bedeuten. Die Versicherungsindustrie hat auch Schäden/Risiken gesehen, die wir vorher nicht erwartet hätten, wie zum Beispiel, dass viele Flugzeugflotten am Boden standen. So ganz neu sind die meisten Risiken nicht, allerdings mussten wir ihre mannigfaltigen Auswirkungen bislang nicht erleben. Ich glaube nicht, dass Nachhaltigkeitsrisiken in den Hintergrund gedrängt werden, weil das Thema so wichtig und auch auf regulatorischer Ebene verankert ist. Themen wie Pandemie, Infectious Diseases und dergleichen werden wichtiger, vor allem auch, wenn eine Pandemie in Zukunft eventuell nicht alle hundert Jahre eintritt, sondern öfter.
Andreas Hell, FMA: Ein Risiko will ich gerne herauspicken, und zwar das Cyber-Risiko oder die Digitalisierung an sich. Es beschäftigt uns in der FMA aktuell sehr stark und wir haben begonnen, das auch vor Ort zu prüfen. Das Thema selbst ist eine große Herausforderung auch für die Versicherungen. Es will natürlich jeder auf den Zug der Digitalisierung aufspringen, aber das Risiko der Cyber-Kriminalität wird unterschätzt. Für eine Versicherung – etwa eine Krankenversicherung –, die viele sensible Daten vorhält, ist der Abzug dieser Daten ein massives Thema. Ein weiteres Thema ist, wenn durch Cyber-Attacken Daten gelöscht oder Systeme lahmgelegt werden. Generell ist die zentrale Frage, wie das Thema vom Unternehmen wahrgenommen und in Folge damit umgegangen wird. Ich weiß, es gibt Sicherungen. Allerdings merken die Unternehmen oft gar nicht, dass sie bereits infiltriert sind und jemand mitliest und -schreibt. Ich halte das für eine der größten Herausforderungen unserer Zeit.
Nadine Wiedermann-Ondrej, BMF: Wir haben Verhandlungen zu DORA (Digital Operational Resilience Act) aufgenommen, wo es eine horizontale EU-Verordnung für Risiken der IT- und Kommunikationstechnologien geben wird. Ich bin auch zuständig für Bundeshaftungen, da hat sich momentan auch das Bundesobligo wesentlich erhöht. Ich rechne mit einer riesengroßen Veränderung der wirtschaftlichen Lage, insbesondere in einzelnen Branchen. Es wird ruppig werden und hart. Es wird im Vertrieb zu spüren sein, im Storno, in den Prozesskosten. Niedrigzins wird bleiben. Das wird uns multiorganmäßig treffen. Das ist 2021/22 zu erwarten und insofern anschnallen und bitte durch diese Krise durchkommen. Ich zähle auf die Versicherer und sehe sie gut aufgestellt.
Wilhelm Schneemeier, DAV: Die neuen Risiken sind meistens die alten. Ein Gesamtrisiko für die Versicherungsbranche sehe ich allerdings darin, dass sie immer mehr in eine Sandwich-Situation gerät zwischen sich verstärkendem Tiefzins und politischer Regulierung und Erwartung. Einerseits und völlig zu Recht diskutiert man im Solvency-II-Review über Verschärfungen auf der Verpflichtungsseite durch konservative Bewertung. Andererseits hat die EU-Kommission als Auftraggeber für den Review den Wunsch, die Versicherer als Investoren nicht zu verlieren. Ein solches Dilemma aufzulösen, ist nicht ganz einfach. Hier besteht die große Gefahr, auf politischer Seite zu sagen, wir müssen bestimmte Kapitalanlagen, die wir gerne sehen, einfach von der Risikobewertung möglichst günstiger stellen. Das ist meine größte Sorge. Da gibt es schon einige Sünden, die auch im letzten Jahr mit Long Term Equity zum Beispiel begangen wurden. Neben diesem Dilemma gibt es ein ganz konkretes Beispiel für neue Risiken direkt auf der Produktseite. In Deutschland erleben wir durch den Druck von Solvency II zurzeit eine Verlagerung zu Risikoprodukten wegen geringerer Eigenkapitalanforderung. Aus Kundensicht ist das erstmal toll. In Deutschland hat das aber noch einen anderen Hintergrund. Die Berufsunfähigkeitsversicherung läuft bei uns noch mit einer Bruttomarge von 40 Prozent. Man darf in Notzeiten tatsächlich gegen Zinsverlust diese Risikoerträge stellen. Das hilft natürlich unter Solvency II auch als Hedge gegen Bestandsrisiken. Dies führt zu einem unglaublichen Marktdruck, diese Produkte zu bekommen, und unter Umständen dazu, dass man in der Annahme von Berufsunfähigkeit locker und unseriös wird. Dann tauscht man im Zweifel Zinsrisiko gegen, auf lange Sicht, Risikoverluste, wenn schlechte Annahmepolitik betrieben wird.
Karin Hirhager, AVÖ: Wir haben vor Beginn der Corona-Krise erstmals über Ihre Teilnahme an dieser Podiumsdiskussion gesprochen. Inwiefern hat sich Ihre Sicht auf unser heutiges Diskussionsthema im Zuge der Corona-Krise geändert?
Andreas Hell, FMA: Ich möchte zunächst ganz kurz auf die Ausführung von Herrn Schneemeier in Bezug auf den politischen Einfluss eingehen – nämlich auf den Zwiespalt zwischen Risikomanagement und den politischen Notwendigkeiten. Hier spielt Solvency II massiv mit und es hat auch großen Einfluss auf die Aufsicht. Wir haben einerseits das SCR (Solvency Capital Requirement), das ist reglementiert und klar definiert, das kann auch nicht anders sein. Und dann haben wir eine umfassende Risikobetrachtung der Unternehmen und dazwischen liegt die Aufsicht, in dem Fall die FMA, die sich beides ansieht und möglicherweise hinterfragt, ob das SCR passt. Für ein Unternehmen liegt es nahe, zur Steuerung das SCR heranzuziehen, und dann beginnt das Problem. Risiken, die nicht angemessen im Standardansatz abgebildet sind, treten in den Hintergrund und werden vernachlässigt. Das kann bedeuten, ich verzichte ganz auf die Steuerung gewisser Risiken – zum Beispiel auf das Spread-Risiko von Staatsanleihen. Ich glaube, das ist wirklich ein Riesenthema.
Zu Ihrer Frage zurück, ob sich meine Sicht geändert hat. Ich sehe keine ganz anderen Risiken, die bestehenden Risiken werden aber gravierender: Es wird enger. Die ruppigen Zeiten kommen. Wir haben ein Niedrigzinsumfeld und die Versicherungsbranche ist relativ stark belastet. Jetzt kommt die Realwirtschaft dazu, die durch die Pandemie in massive Probleme geraten ist. Die Gravität der einzelnen Risiken ist deutlich gestiegen.
Nadine Wiedermann-Ondrej, BMF: Für mich hat sich alles geändert. Das Niedrigzinsumfeld hat uns schon lange begleitet. Anfang des Jahres dachte ich mir, wir kommen ohne wesentliche Änderungen aus. Dann wurde ziemlich schnell klar, dass diese Krise die Realwirtschaft in unbekanntem Ausmaß treffen wird. Durch Hilfsmaßnahmen wurde und wird versucht, dies hintanzuhalten. Auch im Finanzsektor wurde z. B. das Kreditmoratorium durch die EBA (Europäische Bankenaufsichtsbehörde) implementiert, um NPL (Non-Performing Loans) zu vermeiden. Aber das alles hat ein Ablaufdatum. Die Steuerstundungen und die Kurzarbeit haben ein Ablaufdatum. Irgendwann wird man diese Cliff-Effekte spüren und das wird im ersten Quartal 2021 sein. Wie wirkt sich das auf die Versicherungswirtschaft aus? Da gibt es einfach Ansteckungseffekte, die werden nicht vom Finanzmarkt kommen, sondern von der Realwirtschaft.
Wilhelm Schneemeier, DAV: Aktuarinnen und Aktuare können Risiken ja nicht aus der Welt schaffen. Aber einerseits müssen wir für eine seriöse Bewertung von Verpflichtungen sorgen. Wie vorhin schon klar gesagt, können wir nicht Partner sein, wenn bei risikoreichen Assets der politische Wunsch zur Förderung lautet: Die setzen wir jetzt einfach auf null. Da liegt sicherlich eine große Verantwortung. Ich bin froh, nicht im Auge des Tornados zu sein, aber ich sehe natürlich viel politischen Druck, der dieses Jahr entstanden ist. Etwa bei der Betriebsunterbrechungsversicherung, wo man von Seiten der Politik einfach denkt, jetzt könnten die Versicherer doch etwas für ihr Image tun, und leisten in einem Maße, wie es einfach nicht kalkuliert ist. Kfz-Versicherer können auch nicht einfach die Prämien zurückgeben, weil jetzt wegen Corona angeblich keine Autos fahren, das wird aber durchaus von Politikerinnen und Politikern thematisiert.
Ein anderer Punkt, der bei uns in Deutschland gerade diskutiert wird: Wir liegen mit dem Höchstrechnungszins bei 0,9 Prozent, hier ist die Aufsicht hochgradig daran interessiert, den ganz rasch runterzubekommen. Den werden wir bald bei 0,25 Prozent sehen. Damit sind Produkte noch viel mehr betroffen. In Deutschland haben wir ja immer noch so etwas wie den Beitragserhalt zu leisten als Mindestgarantie in der betrieblichen Altersversorgung oder auch bei geförderten privaten Produkten. Das kann man dann nicht mehr darstellen.
Alles in allem hat mir die hörbare Stimme der Aktuarinnen und Aktuare gefehlt. Jede Journalistin, jeder Journalist spricht von exponentiellem Wachstum. Ich hätte mich gefreut, wenn uns dazu jemand gefragt hätte, aber das ist nicht passiert. Daran müssen wir vielleicht arbeiten, dass man uns als Expertinnen und Experten wahrnimmt.
Nadine Wiedermann-Ondrej, BMF: Es ist natürlich so, dass auch die Versicherer eine Rolle spielen und die Produktentwicklung spannend ist. Allerdings stößt die Marktfähigkeit bei manchen Produkten an ihr Grenzen. Die Kreditversicherer haben in Deutschland z. B. eine Unterstützung erhalten. Der Staat tritt immer mehr in die Rolle eines Erstversicherers. Er übernimmt Risiken, die urtypisch Risiken der Versicherungen wären. Die rechtlichen Ausschlüsse in den Verträgen werden mehr. Betriebsunterbrechung wird man künftig nicht mehr in eine Pandemie mitreinnehmen. Bei Naturkatastrophenversicherungen fordert man auch eine staatliche Beteiligung für das Tail Risk. Es verändert sich alles. Die Frage ist, wie sich aufgrund der Erfahrungen, die wir jetzt gemacht haben, der Markt verändert und wie sich die Produktpalette dadurch verschiebt.
Isabella Mammerler, Zürich Versicherungs-Aktiengesellschaft: Im unternehmensweiten Risikomanagement war man immer schon aufgefordert, sehr vorausschauend und vernetzt zu denken. Aber jetzt sehen wir eine neue Dimension, weil es um politische, soziale und wirtschaftliche Themen geht, die wir als Versicherung nicht gleich spüren. Aber bei all diesen Dingen müssen wir antizipieren, was könnte das für mein Geschäft bedeuten. Sei es der Einbruch im Tourismus. Welche Schäden könnten hier auf uns zukommen? Und das gilt auch für viele andere Bereiche, in denen sich neue Entwicklungen ergeben. Viel mehr Personen leiden an Depressionen. Das Gesundheitsrisiko könnte steigen. Soziale Ungleichgewicht wird stärker. Es gibt sehr viel mehr Dimensionen, die wir jetzt in unsere Risk Assessments aufnehmen. Wobei ich da gar nicht so sehr an die Risikokapitalberechnungen denke, die wir in der Krisenzeit viel öfter gerechnet haben. Wir konnten auch die Krisenkonzepte ausprobieren und schauen, ob sie funktionieren. Für diese Erfahrungen und die viel umfassendere Sicht, die wir heute haben, bin ich dankbar.
Karin Hirhager, AVÖ: Gibt es alte Risiken, die Ihrer Meinung nach bereits an Bedeutung verloren haben oder gerade Gefahr laufen, an Bedeutung zu verlieren?
Nadine Wiedermann-Ondrej, BMF: Natürlich könnte man die Frage programmatisch lösen und sagen, im Lockdown hat die Kfz-Versicherung als Risiko an Bedeutung verloren. Das ist wahrscheinlich zu kurzgefasst, denn bedeutend war sie wohl nach wie vor. Das Sustainability-Thema beschäftigt uns natürlich und wohin es uns führt. Wie viel Luftfahrt wird es geben und wie wirkt sich das auf die Luftfahrversicherung aus? In welcher Weise werden uns globale Entwicklungen beschäftigen?
Ganz kurz möchte ich aber noch auf den Solvency-II-Review eingehen. Bis zum dritten Quartal 2021 wird die Kommission ihren Vorschlag vorlegen. Da sind wir schon Ende 2021, bis die Verhandlungen aufgenommen werden. Bis das Ganze in Kraft tritt, ist es 2025. Es wird also noch eine Zeit dauern. Insofern kann ich sagen, so wirklich große Brocken sehe ich jetzt nicht am Horizont. Ich erwarte keine Compliance Risk, im Sinne von große Rechtakte kommen und müssen umgesetzt werden, wir hatten Solvency II, wir hatten die DSGVO, wir hatte IDD. Das alles unter der Annahme, dass es 2021 keine großen Verwerfungen gibt. Damit ist aus der Regulatorik heraus wenigstens ein wenig Ruhe.
Wilhelm Schneemeier, DAV: Hohe Zinsgarantien gehören der Vergangenheit an. Ich komme stark von der Lebensversicherungsseite. Ich bin recht zufrieden mit den Solvenz-Quoten in Deutschland. Wir haben natürlich Transitionals, sonst wäre der Wandel schwer zu schaffen. Das diszipliniert auch und hat sehr geholfen. Als Chance für uns sehe ich, dass die Performance-Erwartung an die Lebensversicherung realistischer wird. Früher hieß es, fünf Prozent kann jeder im Schlaf erwirtschaften. Heute kann man damit auch bei Verbraucherschützern seriöser argumentieren. Und da haben wir einfach Chancen.
Ich komme zum Abschluss gerne noch zum Solvency-II-Review und wie wir uns hier einbringen können. Wir Aktuare sind bei diesem Thema keine Lobbyisten, bestenfalls für unsere Aktuare, wenn es um Anforderung zu Berichterstattung und Grundlagen für unsere Arbeit geht. Aber wir sind keine Lobbyisten für die Industrie. Und da müssen wir immer klar darauf hinweisen, um nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Isabella Mammerler, Zürich Versicherungs-Aktiengesellschaft: Kein Risiko ist komplett weggefallen. Ich habe mir im Global Risk Report angesehen, welche Risiken es früher gab und welche waren früher weiter oben. Da gab es zum Beispiel den Asset-Preisverfall. Das Risiko besteht natürlich nach wie vor, aber die Wahrnehmung ist jetzt eine andere. Die Volatilität wird nun als “normal” betrachtet. Das ist wie das Niedrigzinsniveau. Das ist jetzt da und das bleibt. Gewisse Volatilitäten an den Finanzmärkten hat man jetzt auch vermehrt und sie kommen immer wieder. Ich denke, es gibt einfach oft eine Verschiebung in der Bedeutung gewisser Risiken, aber weggefallen ist aus meiner Sicht nichts.
Andreas Hell, FMA: Da schließe ich mich an. Ich habe in der Lebensversicherung begonnen. Das war um die Jahrtausendwende. Da lebten wir, was Daten und Modelle betrifft, noch in einer ganz anderen Welt. Ich glaube, das ist eine große Veränderung, speziell wenn ich etwa an die Rechenkapazitäten denke oder die Speichermöglichkeiten, die wir jetzt haben. Wir können einen anderen Blick auf die klassischen versicherungstechnischen Risiken werfen. Wir haben natürlich auch in der technischen Entwicklung gewisse Risiken, die sich komplett verändern, und zwar in beide Richtungen – mehr Risiko, weniger Risiko. Wenn man in den 1970er Jahren ohne Gurt gefahren ist, ist ein Autounfall ganz anders verlaufen als heute mit einem voll ausgestatteten PKW. Das Risiko hat sich verringert. Andererseits fahren wir heute vielleicht 180 km/h und damals sind wir mit 80 km/h gefahren. Mein Fazit: Es fallen keine Risiken weg, aber sie werden anders und sind anders handhabbar.
Autorin: Mag. Rita Michlits, AVÖ