Die Rolle der Aktuar:innen im Kontext von Nachhaltigkeit und Klimawandel

Die steigenden Anforderungen an die Einführung und Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien stellen die Versicherungsunternehmen vor neue große Herausforderungen. Damit werden sich auch die Aufgaben und die Arbeit der Aktuar:innen ändern, die aufgrund ihres spezifischen Fachwissens in unterschiedlichsten Bereichen eines Unternehmens anzutreffen sind.

Pariser Klimaabkommen

Durch das Ziel Europas bis 2050 als erster Kontinent klimaneutral zu werden, hat die EU-Kommission im Rahmen des European Green Deal eine „Strategie für nachhaltiges Finanzwesen“ angekündigt und dadurch auch die Versicherungsbranche erfasst. Finanzielle Risiken, die sich aus dem Klimawandel ergeben, sollen demnach bewertet und gesteuert werden. Die Förderung von Transparenz und Langfristigkeit in der Finanztätigkeit ist ebenfalls ein Ziel der EU, welches sich mit einem sehr umfangreichen legislativen Maßnahmenpaket bereits in Umsetzung befindet. Versicherungsunternehmen stellen per se keine energieintensive Branche mit einem großen ökologischen Fußabdruck und hohen CO2-Emissionen dar, sodass sie nur einen geringen Beitrag zur Klimakrise beisteuern. Allerdings sind Versicherungsunternehmen aufgrund ihres Geschäftsmodells zum einen direkt vom Klimawandel betroffen, da es etwa vermehrt zu Extremereignissen wie starken Regenfällen und Hagel kommen wird, was einen Anstieg der zukünftigen Versicherungsleistungen impliziert. Und zum anderen kann auch die Versicherungswirtschaft bedeutend dazu beitragen, das Paris Klimaabkommen erreichen zu können. Denn Versicherungsunternehmen können sowohl bei der Gestaltung ihrer Versicherungsprodukte per se als auch bei ihren Investments am Kapitalmarkt den Nachhaltigkeitsaspekt deutlich mehr als bisher mitberücksichtigen.

Bedeutung des Klimawandels für Aktuar:innen

Das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) als das Gremium der Vereinten Nationen zur Bewertung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel hat mit dem „IPCC Climate Change Report 2021“[1] einen umfassenden Bericht über den aktuellen Zustand des Klimas, einschließlich seiner Veränderung und der Rolle des menschlichen Einflusses und den Wissensstand über mögliche zukünftige Klimaszenarien veröffentlicht. Die darin enthaltenen Erkenntnisse lassen sich im Wesentlichen in den nachfolgenden Punkten zusammenfassen:

  • Seit Jahrzehnten wissen wir, dass sich die Welt erwärmt. Die jüngsten Veränderungen des Klimas sind weit verbreitet, schnell und intensivieren sich. Sie sind so stark wie seit Tausenden von Jahren nicht mehr.
  • Es ist unbestreitbar, dass der Klimawandel durch menschliche Aktivitäten verursacht wird. Der menschliche Einfluss führt dazu, dass extreme Klimaereignisse wie Hitzewellen, starke Regenfälle und Dürreperioden häufiger und heftiger sind.
  • Der Klimawandel wirkt sich bereits jetzt auf alle Regionen der Erde aus, und zwar auf vielfältige Weise. Seine Auswirkungen werden sich mit der weiteren Erwärmung noch verstärken.
  • Einige Veränderungen im Klimasystem lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Einige dieser Veränderungen könnten jedoch verlangsamt und andere gestoppt werden, indem die künftige Erwärmung begrenzt wird.
  • Ohne eine sofortige, rasche und weitreichende Reduzierung der Treibhausgasemissionen wird es nicht möglich sein, die globale Erwärmung auf 1,5°C oder sogar 2°C im Vergleich zu 1850-1900 (vorindustrielle Werte) zu begrenzen.
  • Um die globale Erwärmung zu begrenzen, ist eine starke, rasche und anhaltende Verringerung der Emissionen von Kohlendioxid, Methan und anderen Treibhausgasen notwendig. Dies würde nicht nur nicht nur die Folgen des Klimawandels verringern, sondern auch die Luftqualität verbessern.

Die Internationale Aktuarvereinigung (IAA) erstellte in Kooperation mit den Autoren des IPCC Reports im März 2022 eine Zusammenfassung der Erkenntnisse, die sich speziell an Aktuar:innen richtet[2]. Darin leitet die IAA als Aufgabe von Aktuar:innen die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsrisiken in zukünftige Strategien in den Bereichen Produktgestaltung, Pricing, Underwriting und der Rückversicherung ab. Neben den klassischen Betätigungsfeldern sind Aktuar:innen aufgrund ihres spezifischen Fachwissens auch häufig im Risikomanagement anzutreffen. Im Zuge dessen sieht die IAA als weitere Anforderung an Aktuar:innen, die Bewertung von physischen und transitorischen Klimarisiken und die Einbettung dieser Risiken in den Risikomanagementprozess.

Neue regulatorische Anforderungen an das Risikomanagement und die versicherungsmathematische Funktion

Bereits im April 2021 hat die EIOPA eine Stellungnahme zur Überwachung der Verwendung von Klimawandel-Risikoszenarien im ORSA veröffentlicht. Demnach sollen Versicherungsunternehmen Nachhaltigkeitsrisiken in den Risikomanagementprozess integrieren. Zusätzlich hat EIOPA ein Methodenpapier[3] für Stress-Tests für die Komponente Klimawandel im Januar 2022 publiziert. Das Dokument behandelt Ansätze für Stress-Tests für mikro- und makroprudenzielle Zwecke. Es umfasst Prinzipien zur Festlegung von Klimaszenarien, Modellierungsansätze sowohl für physische Risiken als auch Transitionsrisiken und schlägt Bewertungskennzahlen für die Berichterstattung vor. Auch wenn es an manchen Stellen an Detailtiefe vermissen lässt und damit keine vollständige Lösung erreicht werden kann, stellt es doch eine solide Basis für eine Referenz-Architektur dar. Die konkrete Umsetzung bleibt allerdings für Aktuar:innen herausfordernd.

Überdies erfordert eine weitere Änderung der Delegierten Verordnung (EU) 2015/ 35, die im August 2022 in Kraft tritt, neben der Integration der Nachhaltigkeitsrisiken im Risikomanagement, die Berücksichtigung im Rahmen der Rückstellungsbewertung, der Vergütungspolitik und des Investmentmanagement.

Abbildung 1: Aufgaben der versicherungsmathematischen Funktion im Hinblick auf Nachhaltigkeitsrisiken

Aufgrund der gesetzlich vorgegebenen Aufgaben obliegt es der versicherungsmathematischen Funktion (VMF) sich mit der aktuariellen Relevanz von Nachhaltigkeitsrisiken im Rahmen der Stellungnahme zur Zeichnungs- und Annahmepolitik, Rückversicherung und der Rückstellungsbewertung des Unternehmens auseinanderzusetzen. An dieser Stelle sind vor allem die Vollständigkeit und Qualität der zugrundeliegenden Daten zu nennen, welche auch Informationen zu prospektiven Nachhaltigkeitsrisiken umfassen müssen. Die klimawandelbedingte Zunahme an Intensität und Frequenz von Wetterereignissen wie Sturm, Hagel oder Starkregen und ein damit korrespondierendes höheres Schadenspotenzial muss die VMF etwa bei der Bewertung der Prämienrückstellung und des Prämienrisikos – sofern zuständig – berücksichtigen. Zusätzlich zu dem Weiterbildungsbedarf hinsichtlich Nachhaltigkeitsrisiken muss die VMF Untersuchungen anstellen inwieweit Statistiken von Schadenhöhen und -häufigkeiten durch Schwankungen verursacht werden oder ob hier ein Trend für die Zukunft abzuleiten ist.

Abbildung 2: Referenzpunkte für Aktuar:innen im Zusammenspiel mit Klimarisiken

Analyse aktuarieller Modelle

Grundsätzlich sollten Aktuar:innen überprüfen, ob und in welchem Ausmaß die einzelnen Modelle von Nachhaltigkeitsrisiken betroffen sind. Je nach Sparte und Modellierungshorizont kann der Einfluss unterschiedlich sein. Bei langlaufenden bzw. langabwickelnden Geschäft, wie in der Lebensversicherung oder Haftpflichtversicherung, steht die Best Estimate-Bewertung der versicherungstechnischen Rückstellungen im Vordergrund, während bei tendenziell kurzabwickelndem Geschäft der Fokus insbesondere auf die Risikobewertung gelegt werden sollte. Während ersteres im Verantwortungsbereich der VMF liegt, deutet zweiteres darauf hin, dass sich durch die Veränderung der Wettermuster die Exponierung der Risiken im Bestand ändern können und Akuar:innen sich verstärkt mit den Modell- und Änderungsrisiken auseinandersetzen müssen. Da Exposure-Modelle oft von externen Anbietern zur Verfügung gestellt werden, muss hinterfragt werden, inwiefern Trends aus dem Klimawandel bereits berücksichtigt wurden. Auch bei der Bestimmung des Gesamtsolvabilitätsbedarf sollte die Kalibrierung des Katastrophenmodells kritisch betrachtet und etwa, falls relevant, die aktuell nicht erfassten Risiken Waldbrand und Dürre als eigenständige Gefahren einbezogen werden.

Ausblick

Der Klimawandel und seine Auswirkungen auf das Geschäftsmodell Versicherung sind umfassend und komplex. In vielen der betroffenen Bereiche einer Versicherung (z.B. Underwriting, Produktgestaltung, Pricing, Rückversicherung, Risikomanagement, Investments) spielen Aktuar:innen eine zentrale Rolle und daher können diese durch ihre hohe fachliche Expertise zu einer fundierten Bewertung zukünftiger Klimarisiken und der Herleitung einer Strategie zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken in hohem Ausmaß beitragen. Daher sehen wir das Thema Klimawandel als Chance für uns Aktuar:innen, um einerseits unser aktuelles Tätigkeitsfeld um den Aspekt des Klimawandels anzureichern und andererseits um aktiv mitwirken zu können, das Pariser Klimaziel erreichen zu können. Der Schlüssel zum Erfolgt wird hierbei eine interdisziplinäre Zusammenarbeit u.a. mit Underwriting, Rückversicherung, Risikomanagement und externen Spezialisten sein.

 

 

 

[1] https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg1/

[2]https://www.actuaries.org/IAA/Documents/Publications/Papers/Climate_Science_ Summary_Actuaries.pdf

[3] https://www.eiopa.europa.eu/media/news/eiopa-publishes-third-paper-methodological-principles-of-insurance-stress-testing-climate

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