IM INTERVIEW: Klaus Wegenkittl

Ich bin Aktuar geworden, weil …

… mich der Zufall in die Versicherungswirtschaft gebracht hat. Nach einem reinen Mathematikstudium und einer Anstellung an der Universität habe ich mich nach einem Job in der Privatwirtschaft umgesehen. Prof. Walter Schachermayer hat mir damals empfohlen, mich bei Versicherungsunternehmen zu bewerben. Mein erster Arbeitstag war am 1. März 1991, also vor 30 Jahren. Zur Vervollständigung meiner Ausbildung habe ich dann noch das damalige Kurzstudium Versicherungsmathematik abgeschlossen.

Mich interessiert fachlich …

Als Mathematiker interessiert mich natürlich besonders die Anwendung mathematischer Methoden auf wirtschaftliche Fragestellungen. Am Beginn meiner beruflichen Laufbahn Anfang der 90er Jahre war dies die Tatsache, dass man in der Lebensversicherung über das versicherungsmathematische Äquivalenzprinzip Prämien und Reserven berechnet hat. Unter „Finanzmathematik“ hat man im Studium noch das einfache Auf- und Abzinsen verstanden. Bald darauf gab es die ersten Wirtschaftlichkeitsrechnungen, zunächst für Neugeschäftstarife und dann für ganze Bestände. In den 2000er Jahren wurden für Embedded-Value-Rechnungen stochastische Projektionen zur Bewertung von Garantien erforderlich, und mit Solvency II kam ab 2016 auch noch die Berechnung eines Risikokapitals dazu. In der Sachversicherung gab es bei meinem Einstieg in die Versicherungsbranche noch gar keine Mathematiker, auch das hat sich deutlich geändert.

Was der Beruf für mich bedeutet …

Ich leite das Aktuariat der ERGO Versicherung mit rund 20 MitarbeiterInnen, die vornehmlich in der Lebensversicherung, aber auch in der Sachversicherung und seit Jahresbeginn auch in der Krankenversicherung tätig sind. Dort decken wir alle mathematischen Aufgabenstellungen ab (von Spezialanfragen zu einzelnen Verträgen über Tarifentwicklung und Wirtschaftlichkeitsrechnung bis zur technischen Bilanzierung und aktuariellen Modellierung). Ich schätze daran, dass mir in den letzten 30 Jahren nie langweilig geworden ist, weil sich das Umfeld so rasant geändert hat, dass nie eine Routine aufgekommen ist. Ich hatte wahrscheinlich auch das Glück, eine besonders spannende Phase erleben und mitgestalten zu dürfen. Ich glaube, dass die 30 Jahre davor nicht so turbulent und veränderungsintensiv waren.

Was die Zukunft bringen könnte …

Der Einsatz von Mathematik hat sich innerhalb von drei Jahrzehnten in allen Sparten massiv erhöht, getrieben durch immer schnellere und mächtigere IT-Systeme. Fokus liegt auf Wirtschaftlichkeit in Zeiten schrumpfender Margen und nicht zuletzt treiben regulatorische Anforderungen die Entwicklung voran. Für große Konzerne gilt ab 2023 mit IFRS 17 ein Bilanzierungsstandard, der mit Buchhaltung im klassischen Sinne nichts mehr zu tun hat. Das stellt nicht nur fachliche Anforderungen an Aktuare, sondern fordert auch die Kommunikationsfähigkeit (hier zwischen Rechnungswesen und Aktuariat) noch stärker als in der Vergangenheit. Die IT wird sich weiter entwickeln und immer mehr Berechnungen möglich machen. Die Anwendungen von Big Data und Artificial Intelligence werden vielfältig werden und auch unsere beruflichen Tätigkeiten beeinflussen. Während man seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts danach trachtete, durch zunehmende IT-Unterstützung immer mehr Personal einzusparen, sehen wir bei den Aktuaren bisher die gegenteilige Entwicklung – durch technologischen Fortschritt wird immer mehr berechenbar, und dafür werden immer mehr Mathematiker benötigt. Spannend dabei ist, dass sich auch die Fragestellungen verändert und erweitert haben. Das Konzept des Risikokapitals war vor 30 Jahren noch reine Theorie, heute ist es in Solvency II gelebte Praxis. Und ich bin davon überzeugt, dass es noch viele weitere Anwendungsmöglichkeiten moderner Mathematik gepaart mit moderner IT gibt. Insbesondere wird es dabei kreative Anwendungen geben, an die wir heute noch gar nicht denken. Hätten Sie zum Beispiel gewusst, dass sich die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Homer‘schen Erzählung zu den Irrfahrten des Odysseus mit Methoden der Mathematik und Informatik beantworten lässt?

BerufseinsteigerInnen rate ich …

Offen sein für Neues und sich ins Abenteuer stürzen. Als Mathematiker muss man sich Gott sei Dank keine Sorgen um den Arbeitsplatz machen. Es gibt wirklich ausreichend Jobangebote, und Artificial Intelligence wird zwar kommen, aber bestenfalls Mathematiker unterstützen und keinesfalls ersetzen.

Dr. Klaus Wegenkittl (geboren 1965) ist Leiter Aktuariat ERGO Versicherung

Ausbildung:
Diplom- und Doktoratsstudium der Mathematik an der Universität Wien
Kurzstudium der Versicherungsmathematik an der Technischen Universität Wien
Anerkannter Aktuar der AVÖ

Beruflicher Werdegang:
Nach dem Studium Universitätsassistent, ab 1991 Wiener Städtische Versicherung, ab 1999 UNION/Bank Austria Versicherung
Seit 2009 ERGO Versicherung als Leiter des Aktuariats (Leben, Kranken und Nichtleben), verantwortlicher Aktuar und versicherungsmathematische Funktion für Solvency II

Funktionen:
Vorsitzender des LV-Mathematikerkomitees im Versicherungsverband Österreich (VVO)
Leiter des Arbeitskreises Versicherung der AVÖ
2005–2008 AVÖ-Präsident


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