„Pay as you live“: Heilsbringer für ein gesundes Leben oder Ende der Risikogemeinschaft?

Die technischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts – besonders von „Wearables“ – erlauben die systematische Analyse von Aktivitäten und gesundheitsbezogenen Daten einzelner Personen in Echtzeit. Diese „Selbst-Quantifizierung“ (vgl. [SQ23]) gilt vielen als sinnvolle Innovation zur Unterstützung einer gesunden Lebensweise und mindestens genau so vielen als Ende des selbstbestimmten Lebens bzw. als Daten-Super-Gau. Welche Rolle sollen und können Versicherungen dabei spielen? Droht das Ende des Risikoausgleichs? Sind „Pay as you live“-Tarife in der Personenversicherung die Zukunft? Der Versuch einer Analyse anhand der insureNXT-preisgekrönten „Fitness & Charity“-Community TEAM500 (vgl. [INXT22]).

 

Als „Wearable“-Technologie werden elektronische Geräte bezeichnet, die als Accessoires getragen, in Kleidung eingearbeitet oder sogar unter der Haut implantiert werden und darüber hinaus mit Hilfe von Sensoren Vitaldaten erfassen bzw. diese übertragen können: Smartwatches als „Wearable“ sowie die Herzfrequenz oder Schrittanzahlen als „Vitaldaten“ sind prominente Beispiele. Viele der von Wearables erhobenen Daten, werden im Rahmen von App-Nutzungen mit Herstellern (z.B. „Apple Health“ oder „Garmin Connect“) geteilt. Im Jahr 2021 gab es in Österreich rund 1 Million Nutzer von Wearables und 1,45 Millionen Nutzer von Fitness-Apps (vgl. [STAT23]). Als Gegenleistung versprechen die Apps Unterstützung und Tipps zu einer gesünderen Lebensweise.

Vor allem Bewegung gilt laut WHO als zentraler Faktor zur Stärkung sowohl mentaler als auch physischer Gesundheit. Regelmäßige moderate Bewegung in dem von der WHO empfohlenen Ausmaß kann das Sterblichkeitsrisiko um 20% bis 30%, das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und Demenz um 7% bis 8% sowie Typ-2-Diabetes um 5% reduzieren (vgl. [WHO22]).

Seit Mitte des letzten Jahrzehnts etablieren sich erste Versuche, diese Daten in kundenorientieren Geschäftsmodellen der Personenversicherung zu nutzen. Die digitalen Krankenversicherer Oscar und Clover in den USA (vgl. [KNMW20]) sowie das Vitality-Programm des Generali-Konzerns [GEN23] gelten als Pioniere auf diesem Gebiet.

Eine Kooperation von SCOR, der Kärntner Landesversicherung und dem Softwarehersteller FJUUL startete im Jahr 2021 ein Projekt unter dem Motto „Gemeinsam mehr bewegen“ (vgl. [KLV21]). Zu 500 Lebensversicherungs- und Unfallversicherungsverträgen wurden Smartwatches und Fitness-Apps verteilt. Die registrierten Bewegungsminuten des TEAM500 dienen den Kund:innen („Für mich“), ausgeschriebenen Charity-Aktionen („Für uns“) und einer weltweiten wissenschaftlichen Studie („Für alle“). Als eine der ersten wirklich im Markt umgesetzten Aktionen konnten viele Aspekte – unter anderem zu den Themen Datenschutz, Wettbewerbsrecht, Bereitschaft der Kund:innen Daten zu teilen, Verteilungs- und Vertriebskonzepte  – erfolgreich geklärt und umgesetzt werden. Auf Basis der in der zugehörigen App zur Verfügung gestellten Funktionen zu Bewegungsverhalten, biologischem Alter (vgl. [SCOR23]) und dem Stand der Charity-Ziele konnten nahezu tägliche positive Kundeninteraktionen für Lebens- bzw. Unfallversicherungsverträge erzielt werden.

Das Teilen von Daten mit Versicherungsunternehmen stellt einen besonders beachtenswerten Punkt im Konzept von „Pay as you live“-Tarifen dar. Während die Vorsicht in Kontinentaleuropa größer ist, zeigt eine globale Studie von Remark (vgl. [REMA23]), dass mehr als zwei Drittel der befragten Konsument:innen dem Teilen von Daten sowie mehr als 65% sogar dem Teilen von Wearables-Daten nicht ablehnend gegenüber stehen. Als besonders attraktiver Nutzen wird von drei Viertel der Befragten eine günstige Prämie gesehen. „Charity-Donations“ wie sie bei TEAM500 genutzt wurden, sind für rund 44% der Kund:innen attraktiv. Das Beratungsunternehmen McKinsey (vgl. [MCK20]) sieht ebenfalls steigende Bereitschaft zur Datenteilung im Gegenzug zu steigender Personalisierung von Versicherungsservices. Detaillierte weiter gefasste umfassende Analysen zur „Big-Data-Debatte“ im Allgemeinen und für Versicherungsbezug im Speziellen können in [KNMW20] und [HMSS17] gefunden werden.

Äquivalenzprinzip, Risikoausgleich und gesellschaftliche Akzeptanz

Die Kernideen von „Pay as you live“-Tarifen, also die Berücksichtigung von Echtzeitdaten in der Produktgestaltung, sind tief in der versicherungswirtschaftlichen Grundlagentheorie verankert: das individuelle versicherungstechnische Äquivalenzprinzip und die Reduktion der Schadenerwartungswerte durch Anreize zu Verhaltensänderungen.

Analog zu Telematik-Daten in der Kraftfahrtversicherung bieten die Daten aus Wearables dramatisch verbesserte Möglichkeiten, erwartete Schadenbedarfe für individuelle Personen zu ermitteln. Versicherungstechnisch stellt dies keine fundamentale Herausforderung dar. Für den Risikoausgleich sind Anzahl und (stochastische) Unabhängigkeit zentrale Aspekte, während (Nicht-)Homogenität der Risiken bei entsprechender Datenlage durch geeignete aktuarielle Methoden handhabbar wird.

Im Gegensatz dazu sieht sich die Versicherungswirtschaft zunehmend dem Vorwurf von Diskriminierung und gesetzlichen Verboten, bestimmte Eigenschaften von versicherten Risiken (Unisextarifierung, bestimmte Krankheiten – „Beating Cancer“ und das „Recht auf Vergessen“) zur Tarifierung zu nutzen, ausgesetzt. In [MPWA17] wird die Notwendigkeit zur Nutzung des individuellen versicherungstechnischen Äquivalenzprinzips in der Privatversicherung (zur Verhinderung von Antiselektions- bzw. Unterversorgungseffekten) sowie deren Abgrenzung zu Solidargemeinschaften (im Sinne von systemischer Prämiensubvention von „reich für arm“, „jung für alt“ oder „gesund für krank“) und der Akzeptanz von Tarifierungsmerkmalen systematisch aufbereitet. Zusammenfassend werden Merkmale, die „gefühlt“ durch Verhalten aktiv beeinflusst werden können (z.B. Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen, Rauch- oder Alkoholkonsum, gesunde Ernährung, regelmäßiger Sport) wesentlich stärker akzeptiert, als nicht beeinflussbare Kriterien (Vorkrankheiten, Blutdruck, Geschlecht und auch das Alter (!)). Zu langfristigen Nutzbarkeit von Vitaldaten werden daher Methoden, die einzig Korrelationen zum Schadenbedarf identifizieren, nicht ausreichen. Zu den Aufgaben der Aktuare werden auf jeden Fall die Sicherstellung der Erklärbarkeit der Methoden und der Nachweis einer nicht versteckten Nutzung verbotener Merkmale (z. B. Geschlecht) zählen.

Das „biologische Alter“ und „Behavioural Insurance“

Während die grundsätzlich positiven Effekte von Bewegung und Training auf Gesundheit sowie Mortalität wissenschaftlich evidenzbasiert etabliert sind, steckt eine exakte (zur sinnvollen Abbildungen in Tarifen notwendige) Vermessung der Zusammenhänge in den Kinderschuhen.

Als mathematische Basis für „Pay as you live“-Tarife hat der Rückversicherer SCOR in Zusammenarbeit mit anderen Akteuren der Wearable-Technologie-Industrie das Biological Age Model (BAM) entwickelt. BAM nutzt die Daten von Wearables, um das biologische Alter einer Person zu ermitteln. Für Endkund:innen ist dies ein leicht verständliches und nachvollziehbares Gesundheitsmaß. Anhand der Anzahl der zurückgelegten Schritte können Kund:innen überprüfen, ob ihr biologisches Alter höher oder niedriger ist als ihr tatsächliches Alter.

Das dahinterliegende mathematische Modell basiert auf klinischen Daten aus über 20 Jahren und zeigt als Ergebnis, dass die Anzahl der Schritte pro Tag einen starken Einfluss auf die Mortalität hat. Insgesamt scheinen Aktivitätsparameter ein stärkerer Indikator zu sein als traditionelle Underwriting-Faktoren (Blutdruck, BMI, Raucherstatus, Cholesterin, …).

Aus einer rein technischen Perspektive betrachtet lässt sich daraus ableiten, dass Wearable-Daten in der Lage sind, die traditionelle Risikoprüfung zu optimieren und Versicherungsunternehmen in die Lage zu versetzen, ihre Risikobewertung kontinuierlich zu aktualisieren. Zu Ende gedacht, wäre das Ergebnis in letzter Konsequenz ein dynamisches Underwriting, was eine permanente kontinuierliche Prämienanpassung nach sich ziehen würde.

Im Hinblick auf die angesprochenen grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz derartiger Überlegungen wurde beim TEAM500-Projekt jedoch ein gänzlich anderer Zugang gewählt und der Engagement-Aspekt für einen gesünderen Lebensstil in den Vordergrund gestellt.

Traditionelle Wege zur Unterstützung eines risikoaversen und damit schadenreduzierenden Verhaltens in der Versicherungswirtschaftslehre sind Selbstbeteiligungen und Bonus-Malus-Systeme. Eine aktuelle Studie aus dem amerikanischen Krankenversicherungsmarkt (vgl. [HAS21]) bestätigt die Wirksamkeit dieser Vereinbarungen abermals empirisch. Während viele der traditionellen Maßnahmen mit verringertem Kundenerlebnis (z. B.: mehr Nervosität beim Autofahren) oder sogar Fehlanreizen (z.B.: das Unterlassen notwendiger Arztbesuche bei Selbstbehalten in der Krankenversicherung), stellen „gameifizierte“ Anreize oder beratende Funktionen zu mehr Bewegung in Apps unter Umständen kombiniert mit geeigneten „Nudging“-Ansätzen („90% der Peer-Group haben heute mehr als 10.000 Schritte gemacht“, „deine Gruppe braucht noch 1.000-Schitte im Durchschnitt um diese Charity-Donation auszulösen“,…) eine positive Beeinflussung zum Nutzen beider Seiten dar. Das der Team500-Aktion zugrundeliegende „biologische“ Alter ist ein Weg langfristige abstrakte Ziele, wie Gesundheit, in eine unmittelbar darstellbare Zahl zu übersetzen und dadurch mit schnellen Erfolgen das Engagement der Kund:innen zu stärken.

Ein zentrales Konzept aus der Welt der Verhaltenswissenschaft zum Verständnis der Entscheidungsfindung bei der Gestaltung von Gesundheitsförderungsprogrammen ist die sogenannte „Verlustaversion“.

Grob gesagt bedeutet das, dass Verluste von Menschen intensiver wahrgenommen werden als entgangene Gewinne. Daher erzeugt das Bestreben, einmal erzielte „Altersgewinne“ nicht wieder abzugeben, für eine zusätzliche Motivation zu Bewegung (vgl. [REMA21]). Damit verbundene finanzielle Anreize (Rabatte, Gewinnbeteiligung, …) können diesen Effekt noch verstärken.

Fazit

Neue Technologien sorgen bereits heute für eine bisher unvorstellbare Flut von potentiell tarifrelevanten Daten in Echtzeit. Große Strategie- und Beratungsfirmen sehen in der Nutzung dieser Daten zu Personalisierung einen Königsweg, der „Innovationkrise“ der Personenversicherung zu entkommen (vgl. McKInsey). Die daraus entstehenden Möglichkeiten und fachlichen Herausforderungen an Aktuare sind inspirierend. Gerade für das aktuelle Selbstverständnis der Aktuare der 5. Generation, als “profession that is recognised as a leader in data and analytics across industries“, bietet sich als Berufsstand – im Zusammenhang mit der in den Kinderschuhen befindlichen Vermessung von Bewegung und Gesundheit – die einmalige Möglichkeit, unseren Wert für die Gesellschaft weit über den reinen „Versicherungsbezug“ hinaus zu beweisen und gleichzeitig das Geschäftsmodell der Personenversicherung verantwortungsvoll zu modernisieren.

Weltweit arbeiten Data Science-Gruppen der Aktuarvereinigungen mit Hochdruck daran, einschlägige Positionen zur Nutzung großer, individueller Datenmengen sowie entsprechende Grundsätze und Standards zu erstellen. Österreich ist in diesen Gremien mit dem Leiter des Arbeitskreises „Data-Science“ Dr. Jonas Hirz vertreten.

Noch intensiver als in der Vergangenheit stellen sich Bereitschaft und Kompetenz zur Einbringung in multidisziplinäre Teams als wichtige Erfolgsfaktoren dar: Brauchen wir dafür schon die 6te Generation von Aktuaren?

 

Literaturquellen

[SQ23] https://quantifiedself.com

[INXT22] https://insurenxt.com/de/rueckblick/

[STAT23] https://de.statista.com/themen/4648/wearables-in-oesterreich/#topicOverview

[WHO22] „Global status on physical activity 2022“, ISBN 978-92-4-005915-3, WHO, 2022.

[KNMW19] „Die Big-Data-Debatte. Chancen und Risiken der digital vernetzten Gesellschaft“
Knorre, Müller-Peters, Wagner, ISBN: 978-3-658-27257-9, Springer, 2020.

[GEN23] https://www.generalivitality.com/at/de

[KLV21] https://team500.klv.at/

[SCOR23] https://www.scor.com/en/biological-age-model-bam

[REMA23] „Global Consumer Study 2022-23“, ReMark, www.remarkgroup.com, 2023.

[MCK20] „The future of life insurance“, McKinsey, 2020.

[HMSS17] „Big Data für Versicherungen“, Heep-Altiner, Müller Peters, et. al, Forschung am ivwKöln, Band 2/17, 2017.

[MPWA17] „Geschäft oder Gewissen? Vom Auszug der Versicherung aus der Solidargemeinschaft“, Müller-Peters, Wagner, ISBN 978-3-00-055896-2, Goslar Institut, 2017.

[HAS21] „Fördert ein Selbstbehalt Sparsamkeit in der Krankenversicherung?“ Hasch in: Die Wirtschaft im Wandel. Springer Gabler, Wiesbaden, 2021. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31735-5_34

[REMA21] https://www.remarkgroup.com/en/insights/5-ways-behavioural-science-can-transform-insurance

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